Nachbericht zum Webtalk am Thementag »Live und hybrid – Zurück in die Gegenwart«

Am Thementag »Live und hybrid – Zurück in die Gegenwart« des Digitalfestivals 2021 ging es im nachmittäglichen Webtalk um das Thema „Wie schaffen wir das neue Miteinander in und nach der Corona-Pandemiezeit?“. Seit dem Digitalfestival 2020 haben wir alle viel gelernt. Vor einem Jahr dachte noch niemand an Testen in der Fläche, die Existenz von wirksamen Impfstoffen war noch weit weg am Horizont, wie es mit der digitalen Bildung und Beschulung weitergehen sollte, galt als völlig offen u. v. m.

Um einen Kontrapunkt gegenüber aktuellen Talkshows im TV zu setzen, deren Sound oftmals in aufgeregter Empörung schwelgt und die zuweilen mit dem Wissen von heute Maßnahmen von gestern als Staatsversagen und Desaster apostrophieren, haben wir gedacht, wir laden zum Webtalk einfach einmal zwei Innovationspionier:innen ein, um mit ihnen zu reden und um von ihnen zu lernen.

Teil 1 – „Chancen der Digitalisierung nutzen – nicht nur in Risiken denken“

Als erster Gast in unserem Webtalk stand uns der Holzgerlinger Apotheker Dr. Björn Schittenhelm Rede und Antwort. Bereits im Herbst 2020 stellte er dem Böblinger Landrat Roland Bernhard seine Schnellteststrategie vor, die heute als „Böblinger Modell“ bundesweit bekannt ist. Bürger und Bürgerinnen können durchgängig digital einen Testtermin vereinbaren und erhalten per App ihr Testergebnis. Damit galt er schnell als Vorreiter in einem Gesundheitswesen, das hinsichtlich der Digitalisierung noch aufholen muss, wie Schittenhelm selbst kritisiert. Gerade der strenge Datenschutz in Deutschland blockiere hier die Innovationskraft. Vor dem Hintergrund, dass im Zuge der Corona-Pandemie eine Reihe an Grundrechten eingeschränkt wurden, sei es für ihn nicht nachvollziehbar, warum die Politik keine sinnvollen Lockerungen im Datenschutz in Erwägung gezogen habe.

Daten schützen Leben

Dr. Schittenhelm wolle niemanden zwingen persönliche Daten preiszugeben. Allerdings sprach er sich dafür aus, dass die Hürden für diejenigen, welche ihre Daten zur Verfügung stellen wollen, um individuellen oder gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu erzielen, deutlich niedriger sein müssten. So gehe es schließlich im Gesundheitswesen am Ende nicht um Bequemlichkeit, sondern um Leben und Tod. „Jedes Jahr sterben geschätzt über 30.000 Menschen wegen Kontraindikationen von Medikamenten“, weil Behandelnden die nötige Information fehle. Dr. Schittenhelm postuliert: „Wir müssen viel mehr Opt-In Möglichkeiten schaffen, dass sich die Leute mehr an die Digitalisierung herantrauen und sich beteiligen“. Der Mensch dürfe schließlich nicht aus „Faulheit die Digitalisierung verschlafen.“

Der Transfer der Daten im Gesundheitswesen funktioniere nicht, kritisiert Dr. Schittenhelm. Zum Verständnis schildert er, wie eine Telematik Infrastruktur mit Konnektoren aus den 80er Jahren jetzt erst in seinen Apotheken verbaut wurde. Sie verstaube und werde nie funktionieren. Eine „gescheite Blockchain“ daraus zu machen, sei aufgrund des Datenschutzes nicht möglich. Gerade aufgrund solcher Beispiele lägen ihm Digitalisierungsprojekte sehr am Herzen. Letztendlich habe die im Landkreis Böblingen verfolgte Teststrategie ihren Erfolg der Digitalisierung zu verdanken – was sich durch relativ niedrigere Inzidenzwerte bestätigen lässt.

Impfprojekt in der Pipline

Zum Abschluss gab Schittenhelm noch einen sehr interessanten Einblick in zukünftige Projekte: So kündigte er die Eröffnung des ersten volldigitalen Impfzentrums in Holzgerlingen an. Noch im Mai sollen dort Menschen ohne Priorisierung geimpft werden können.

Passend dazu beschreibt er den digitalen Impfpass als eine „Herkules-Herausforderung“: Bis zu seiner planmäßigen Einführung diesen Sommer werden seiner Schätzung nach bereits 50 Millionen Menschen in Deutschland geimpft sein. Diese wollen natürlich alle in Apps wie der DoctorBox App erfasst werden. Ein sicherer und gesicherter Umgang mit derart großen Datenmengen macht aus seiner Sicht innovative neue und schnellere digitale Lösungen weiter erforderlich.

Wir bedanken uns bei dem Innovationspionier Dr. Björn Schittenhelm für die interessanten Einblicke, die er allen Teilnehmenden im Webtalk aufzeigen konnte.

Teil 2 – „Nicht lamentieren, sondern selbst in die Hand nehmen“

Als zweiten Gast in unserem Webtalk durften wir Maike Becker, Initiatorin von „HEY, ALTER! Stuttgart“, begrüßen. In ihrem Hauptberuf ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin and der Universität Hohenheim. In dieser – wie sie selbst beschreibt – „absolut privilegierten Position“, wuchs in ihr das Bedürfnis „nicht zu lamentieren, sondern zu reagieren, zu agieren und etwas selbst in die Hand zu nehmen“. Dabei stieß sie auf das Social-Franchising-Projekt „Hey Alter!“, das in Braunschweig in Niedersachsen entstand und welches das Ziel verfolgt, alte Rechner aufzubereiten und diese dann ganz unbürokratisch an benachteiligte Schülern:innen zu verteilen. Mittlerweile gibt es das Projekt in einer Vielzahl an Städten – auch in Stuttgart. Und das ist vor allem der Verdienst von Maike Becker.

Wie funktioniert „HEY, ALTER!“?

Bislang besteht „HEY, ALTER! Stuttgart“ aus einer Gruppe von 5 Freund*innen, welche in Stuttgart ehrenamtlich den alten Geräten neues Leben einhauchen. Häufig werden die noch funktionsfähigen Computer dadurch vor dem Elektroschrott-Tod gerettet. So betont Becker, dass neben dem Aspekt der digitalen Bildung und dem sozialen Aspekt auch der Nachhaltigkeitsgedanke eine große Rolle spiele. Werden die Rechner gespendet, folgt als erster Schritt die Löschung aller Daten. Danach wird das Open-Source Betriebssystem Ubuntu installiert, sowie alle notwendigen Funktionen getestet. Webcam und Mikrofon bzw. MS-Teams und Zoom sind aufgrund der Anforderungen im Homeschooling besonders wichtig.

Nach der Aufbereitung der Geräte stellt vor allem die Identifizierung der benachteiligten Schüler:innen eine Herausforderung dar. Um Stigmatisierungen zu verhindern, sei man vor allem mit Lehrer:innen und Pädagog:innen vor Ort in Kontakt, erklärt Becker. So müsse beispielsweise niemand einen Sozialhilfenachweis o. ä. vorweisen. Aufgrund von bestimmten Erfahrungswerten erkennen die Lehrkräfte benachteiligte Schüler:innen recht schnell z. B. weil sie digital verschwinden oder erst nachts um drei Uhr ihre Hausaufgaben schicken. Sind die Kinder und Jugendlichen identifiziert, werden die Geräte von den Lehr- und Betreuungskräften an diese direkt verteilt und eben nicht an die Schule.

Hohe Nachfrage und noch zu wenig Mittel

Die Nachfrage sei hoch, betont Becker: „Fast jeden Tag bekommen wir Anfragen von Schülern“. Ihr ginge es dabei nicht darum zu sagen, dass die Politik nichts tue, jedoch würden viele politischen Maßnahmen an bürokratischen Hürden scheitern. Zudem mangele es dabei nicht nur an Geräten in den Schulen, sondern auch an der Medienkompetenz der Ausbildenden. An diesem Punkt wolle man deshalb weiter ansetzen: „Es ist nicht damit getan die Geräte einfach nur zur Verfügung zu stellen“, plädiert Becker. „Wir wollen dahinkommen, dass die Geräte mit den Schülern getestet werden können.“

Wir bedanken uns bei der Innovationspionierin Maike Becker für ihre interessanten Einblicke in „Hey Alter! Stuttgart“. Weitere Informationen und in welcher Form Sie das Projekt ideell, finanziell oder mit Rechnerspenden unterstützen können, finden Sie unter: https://heyalter.com/stuttgart.

 

(Bildquelle: winyu – stock.adobe.com und Fraunhofer IAO)