Partnerinterview mit Emmanuel Beule, IHK Südlicher Oberrhein

Herr Beule, Sie sind Experte für Digitale Transformation bei der IHK Südlicher Oberrhein, Sie stehen im täglichen Austausch mit der Wirtschaft und ihren Menschen. Wo drückt bei den kleinen und mittleren Unternehmen der Schuh?

Eher Schuhe, im Plural, um im Bild Ihrer Frage zu bleiben. Ohne Zweifel, und das ist für niemanden mehr neu, drückt der Arbeits- und Fachkräftemangel in allen Branchen. Angefangen bei unbesetzten Ausbildungsberufen geht es weiter mit fehlenden Berufseinsteigern. Hinzu kommt ein nur schwer (be)greifbarer Effekt: Es gibt immer mehr Beschäftigtengruppen, vor allem junge Menschen und über alle Altersgruppen hinweg die in den höheren Einkommensgruppen, die häufiger als früher den Arbeitgeber wechseln.

Interessanterweise – die Hinweise verdichten sich, sind aber noch nicht bestätigt – kehren viele dieser Personen zu dem Unternehmen zurück, das sie zuvor verlassen haben. Die Gründe dafür aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen.

Ich nenne einige weitere Punkte, die für sich selbst sprechen, aber in der Zusammenschau deutlich machen, unter welchem Druck die Unternehmen und letztlich wir als Wirtschaftsraum in immer gefährlicheren Szenarien stehen:

    • gesetzlich geforderte ökologische Nachhaltigkeitsaspekte, die kurzfristig (zu) teuer sein können
    • Fachkräftemangel ohne verfügbare Lösungskonzepte durch Zuwanderungsmöglichkeiten oder Substitution durch Automatisierung und digitale Transformation
    • die verzögerten wirtschaftlichen Auswirkungen durch Corona-Maßnahmen
    • eine globale Zeitenwende durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit z.B. den Folgen steigender Energiepreise und in Frage gestellter internationaler Handelsabkommen, gestörten Lieferketten
    • eine zunehmend diffuse Informationslage, gefördert durch die vierte Gewalt im Staat, hier die Online-Presse, die Schlagzeilen produzieren muss, um Leser zu mobilisieren, dabei aber durch das Medium »Online« selbst in die Krise gerät. Grund dafür sind unter anderem Fakenews, die von selbsternannten Schlagzeilenpropheten in Social-Media-Kanälen verbreitet werden, als gäbe es kein Morgen (aber auch Trolle im Auftrag von Regierungen oder Menschen, die die Demokratie beerdigen wollen)
    • ein hektisches und für viele nicht mehr nachvollziehbares politisches Geschehen, das vielleicht auch aus dem zuvor genannten Punkt resultiert – denn selten mussten so viele Krisenszenarien gleichzeitig von einer neu gewählten Regierung gelöst werden

Die Liste ist unvollständig und ich komme zum Punkt: Die kleinen und mittleren Unternehmen leiden unter einer zunehmenden Dichte von Transformationsanforderungen.

Erschwerend kommt folgendes Phänomen hinzu: Gerade im deutschsprachigen Raum sind wir es gewohnt, bestehende Strukturen zu verteidigen und Krisenkonzepte umzusetzen. Innovationsfähigkeit, ein stabiler Staat und die Marke Made in Germany haben uns jahrzehntelang Wohlstand und Wachstum beschert. Aber die Innovationskraft ist weltweit gestiegen und es gibt sehr gute Produkte aus anderen Ländern. Und wenn wir nicht aufpassen, werden wir überholt – was zum Teil schon geschehen ist.

Was heißt das in Bezug auf Digitalisierung?

Das Sprichwort – um noch einmal auf die Schuhe zu kommen – »Die Schuster tragen die schlechtesten Schuhe« – passt perfekt auf den messbaren digitalen Reifegrad von Unternehmen. Als Innovationsland verkaufen wir die besten digitalen Produkte unter den Top 5 Ländern. Aber in den Unternehmen ist der digitale Reifegrad nicht nur schlecht, wir sind fast Schlusslicht in Europa.

Das heißt: Hier klafft eine große Lücke, die wir dringend schließen müssen. Die (digitale) Transformationsfähigkeit wird durch unterschiedliche Einstellungsmuster und viele andere Gründe auf allen Hierarchieebenen gehemmt. Dies kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Aus meiner beruflichen Vergangenheit, meiner Beratungstätigkeit im KMU-Umfeld (und meiner wissenschaftlichen Forschung) stelle ich fest: Digitalisierung wird mit Produkten verwechselt. Viele glauben, dass die Anschaffung von Softwarelösungen die Probleme in den Unternehmen löst.

Die konzeptionelle Überlegung, wofür eine Software eigentlich eingesetzt werden soll, wurde und wird teilweise immer noch zu stark den Anbietern überlassen. Es wird mehr die Frage beantwortet, warum eine Software eingesetzt werden soll, als wozu. Die Beantwortung bzw. Untersuchung einer Warum-Frage neigt in unserem Sprachgebrauch dazu, die Vergangenheit aufzuarbeiten und in der Übertragung auf eine digitale Anwendung 1:1 umzusetzen. Wenn sich die Verantwortlichen aber die Frage stellen, wozu ein Geschäftsprozess oder was auch immer digitalisiert werden soll, dann führt die Frage nach dem Wozu fast von alleine zur Frage nach dem unmittelbaren Geschäftszweck. Der Geschäftszweck eines Unternehmens, das unterstelle ich hier, ist immer ein in die Zukunft gerichteter Aspekt. Diesen mit der Digitalisierung in Verbindung zu bringen, ist Aufgabe der Unternehmensgestalterinnen und -gestalter. Die Erfahrung und Studien bestätigen, dass hier ein Defizit besteht.

Digitalisierung ist also kein Produkt, sondern immer ein Konzept. Industrieunternehmen setzen dies in der Produktion oft umfassend, professionell und leuchtturmartig um. Deshalb ist diese Branche so vorbildlich und mit den hergestellten Produkten oft zu Recht marktführend. Sobald es aber um administrative Tätigkeiten in der Verwaltung geht, werden auch in größeren Unternehmen ganze Geschäftsprozesse durch IT-Schattensysteme – z.B. mit Excel – konterkariert.

Zur weiteren Vertiefung bieten wir bei Interesse das impulsnetzwerk.ihk.de und Veranstaltungsformen wie die regionalen Popup-Labore an.

Fazit: Gesellschaftlich, strukturell und kulturell leiden wir an einer gehemmten bis gespaltenen Transformationsfähigkeit. Denn historisch betrachtet findet Prozessgestaltung seit Beginn der Industrialisierung oft auf der operativen Ebene statt und nicht auf der dafür notwendigen Managementebene. In amerikanischen und asiatischen Unternehmen ist Prozessgestaltung immer Chefsache, weshalb eine Optimierung und Automatisierung durch Digitalisierung schneller und besser gelingt.

Hinzu kommen immer schneller wachsende, teils berechtigte, teils herbeigeführte Spannungsverhältnisse in den folgenden Segmenten:

    • Führungsfähigkeiten
    • Belegschaftsinteressen
    • Geschäftsmodell- und Produktentwicklung
    • Organisationsentwicklung

Diese werden von ökonomischen, ökologischen und sozialen Nachhaltigkeitsaspekten eingerahmt bzw. erschwert. Mit der aufkommenden künstlichen Intelligenz sind nun auch ethisch-moralische Kodizes gefragt, die den Druck auf die Wandlungsfähigkeit der Unternehmen und aller beteiligten Stakeholder – also uns alle – weiter erhöhen.

Welche Lösungen auf welche Probleme sollten wir zuerst angehen – im Popup Labor BW und darüber hinaus?

Vor allem müssen wir lernen, Fragen über Probleme zu stellen, gut zuzuhören und dann gemeinsam über Lösungen nachzudenken. Wir haben in den letzten Jahrzehnten – und da spreche ich für die digitalen Branchen – viel zu sehr nach dem Prinzip »Meine Lösung, dein Problem« gearbeitet. Und, verrückt genug, die Kunden haben danach gekauft. Das heißt, wir tragen gemeinsam die Verantwortung für die Situation und sollten uns nicht gegenseitig Vorwürfe machen.

Wir sollten uns von der Idee verabschieden, dass es Blaupausen für die Lösung von Problemen in Unternehmen gibt. Jedes Unternehmen und jedes Problem ist anders, und deshalb müssen wir auch individuell auf diese Probleme reagieren. Dazu ist es notwendig, schneller über Probleme zu sprechen und nicht über schöngefärbte Herausforderungen. Umgekehrt müssen wir uns als Wissenstragende und -vermittelnde davor hüten, aus dem Elfenbeinturm heraus Dinge zu predigen, die zwar wissenschaftlich valide sind, aber nicht mehr die Sprache der betroffenen Personenkreise sprechen. Das ist ein Vorwurf, den ich unserer Zunft (und mir selbst) gerne mache.

Wir können Megatrends erklären. Wir können ihre Merkmale und bestimmte Vorteile aufzählen. Wir müssen nicht missionieren. Wir sollten den Gästen den Raum und die Zeit geben, sich den wirklichen Nutzen selbst zu suchen und mit uns und anderen Gästen in einen Austausch zu treten. Das große Ganze lässt sich natürlich nicht auf einer einzelnen Veranstaltung lösen, aber dafür gibt es Netzwerkprojekte wie »Zukunft.Raum.Schwarzwald«. Und wir als regionale Vertreter von Kammern, Verbänden und anderen Interessensvertretungen sind ja da. Auf Augenhöhe.

 

(Bildquelle: IHK Südlicher Oberrhein)